„Nach tausend Tagen Training ist man ein Anfänger, nach zehntausend Tagen ein Meister“
Sosai Mas Oyama
In einem Lehrer – Schüler Verhältnis erlernt der Schüler typischerweise neue Fähigkeiten durch Anweisungen des Lehrers und gezielte Übungen. Der Schüler durchläuft dabei verschiedene Kompetenzstufen, welche die Brüder Stuart und Hubert Dreyfus im Februar 1980 im sogenannten „Dreyfus model of skill acquisition“ beschrieben[1]. Dieses Model beschreibt wie ein Lernender sich Wissen aneignet und dabei fünf verschiedene Entwicklungsstufen durchläuft:
- Anfänger (Novice)
- Fortgeschrittener (Competence)
- Kompetenter (Proficiency)
- Gewandter (Expertise)
- Experte (Mastery)
Sowohl als Schüler als auch als Lehrer ist es wichtig diese Stufen zu kennen, da sie einen Anhaltspunkt geben, wie der Schüler am besten lernt und wie seine Fähigkeiten einzuordnen sind. Je nach Stufe braucht der Schüler andere Regeln, Anweisungen und Übungen. Die Stufen werden folgendermassen beschrieben:
- Anfänger:
Der Lernende hat keine Erfahrung, brauchte strikte Regeln und klare Anweisungen und kann diese nicht im Kontext einordnen. Er ist nicht in der Lage eigene Einschätzungen vorzunehmen und Verantwortung zu übernehmen. - Fortgeschrittener:
Es existiert ein begrenztes Verständnis der Situation und des Zwecks einzelner Tätigkeiten. Er kennt und bewältigt einfache Anwendungssituationen und versteht das Konzept. Anweisungen und Arbeitsschritte werden getrennt wahrgenommen und der Lernende widmet ihnen gleichmässig seine Aufmerksamkeit. Erfasst nur Teilaspekte einer Situation. - Kompetenter:
Aufgaben und Tätigkeiten werden im Zusammenhang mit Zielen wahrgenommen. Die Person ist in der Lage mehrere Tätigkeiten miteinander in Einklang zu bringen und kann Ansammlungen von Information verarbeiten. - Gewandter:
Es existiert ein gesamtheitliches Situationsbild. Einzelne Teile einer Tätigkeit können nach Bedeutung priorisiert werden. Die Person erkennt Abweichungen von der normalen Vorgehensweise und entwicklet Alternativen. Es werden Leitbilder herangezogen und an die jeweilige Situation angepasst ohne die grundlegende Bedeutung zu verwässern. - Experte:
Der Experte verlässt sich nicht mehr allein auf bestehende Regeln und Leitbilder. Tiefgreifendes Verständnis des jeweiligen Themas erlaubt ihm in Situationen intuitiv zu handeln. Er erkennt was möglich ist und benutzt einen analytischen Ansatz wenn es um neue Situationen oder Probleme geht. Er bricht Regeln falls nötig und handelt bewusst und ganzheitlich.
Shuhari
In den japanischen Kampfkünsten kennen wir ein Konzept dass sich gut auf das Dreyfus Modell abbilden lässt. Shuhari (守破離) beschreibt drei Stufen des Lernens:
- Shu (守): befolgen, gehorchen, beschützen
- Ha (破): übertreten, verletzen, zerreißen
- Ri (離): überwinden, loslassen, trennen,
Shu
In dieser ersten Phase die mit der Anfängerstufe des Dreyfus Modells vergleichbar ist folgt der Schüler präzise den Anweisungen seines Meisters (Lehrers). Er baut das technische Fundament der Kampfkunst auf. Er konzentriert sich darauf die Anweisungen seines Meisters zu befolgen und genau auszuführen ohne sich über den Zweck und die Idee dahinter Gedanken zu machen. Wenn man die Übung/Technik auf verschiedene Arten machen kann konzentriert sich der Schüler darauf sie genau nach Anweisungen seines Lehrers zu machen.
In dieser Stufe bestimmt der Meister ob der Schüler in die Ha Phase weitergeht und nicht der Schüler selbst. Der Schüler soll einfach ohne Kritik oder zu Hinterfragen aufnehmen was ihm der Meister beibringt.
Ha
In dieser Phase beginnt der Schüler teilweise mit den Traditionen zu brechen. Er kennt die grundlegenden Techniken und Übungen und beginnt jetzt die zugrundeliegenden Prinzipien und Theorien zu lernen und zu verstehen. Er fängt an von anderen Meistern zu lernen und integriert diese Erfahrungen in seine Übungen.
In dieser sehr wichtigen Phase muss der Schüler anfangen in allem was er gelernt hat die Bedeutung und die Prinzipien zu erkennen um ein tieferes Verständnis seiner Kampfkunst zu erreichen.
Ri
In dieser Phase ist der Schüler nicht mehr ein Schüler im eigentlichen Sinn, jetzt lernt er nicht mehr von anderen Meistern sondern von sich selbst. Er ist ein Praktizierender der seine eigenen Übungen, Techniken, Anwendungen und Gedanken auf den zugrundeliegenden Prinzipien entwickelt und testet. Er hat die Prinzipien verinnerlicht und alle seine Ausführungen/Bewegungen sind natürlich und folgen intuitiv diesen Prinzipien.
Shu Ha Ri im Dojo
Jeder der eine Kampfkunst erlernt, kann sich in einer oder mehreren dieser Stufen erkennen. Typischerweise geht man nicht einheitlich durch die Stufen vom Anfänger zum Experten sondern befindet sich in verschiedenen Phasen gleichzeitig. Man kann z.B. im Kata bereits in der Ha Phase sein, während man im Kumite noch auf der Shu Stufe ist.
Als Schüler in der Shu Phase ist es wichtig dem Meister zu vertrauen und seinen Anweisungen zu folgen ohne seine Worte zu Hinterfragen. Als Schüler müssen wir es unserem Meister überlassen, ob er uns bereit sieht für die nächste Phase. Typischerweise ist man als Farbgurt hauptsächlich in der Shu Phase und nur vereinzelt am Anfang der Ha Phase.
Als Lehrer dürfen wir unsere Schüler in der Shu Phase nicht mit Erklärungen und Prinzipien überfordern, sondern ihnen durch genaue und klare Anweisungen die Grundlagen beibringen.
Mit dem Erreichen des schwarzen Gurtes kommt der Schüler in immer mehr Bereichen in die Ha Phase. Nicht umsonst heisst der erste Dan Grad Shodan oder „Anfänger Grad“ (mehr dazu in einem späteren Blog Artikel). Als Yudansha (Danträger) müssen wir Anfangen die Prinzipien zu erkennen und das Erlernte zu hinterfragen ohne aber dabei die Anweisungen des Meisters zu missachten.
Als Lehrer müssen wir unseren Schülern die Freiheit geben mit dem Erlernten zu experimentieren. Der Lehrer übernimmt immer mehr eine Coaching Rolle, steck die Grenzen ab, gibt Einblick in die Prinzipien und Ziele und leitet seine Schüler auf dem Weg (Do).
Nach Jahren , oder wie Sosai sagte „zehntausend Tagen“, intensivem und bewusstem Üben und sich mit der Kampfkunst Auseinandersetzen kann man allmählich die Ri Phase erreichen. Man wird zu einem wahren Meister der die Prinzipien der Kunst verinnerlicht hat. Vielleicht geht man einen neuen Weg, entwickelt seine eigene Kampfkunst als Fusion aller Erfahrungen die man gemacht hat. Aber selbst in der Ri Phase hört das Lernen nicht auf. Mittels Selbstreflexion überprüft, kritisiert und testet der Meister seine Theorien und Prinzipien um sich stetig zu verbessern.
In den östlichen Kampfkünsten ist das Lehrer-Schüler Verhältnis und Shu Ha Ri eine wesentliche Voraussetzung für das Erlernen der Kampfkunst. Man kann eine Kampfkunst nicht einfach aus Büchern lernen sondern braucht die Anweisungen und das Vorbild eines erfahrenen Meistern. Damit das funktioniert braucht es ein grosses gegenseitiges Vertrauen und Respekt. Zwei Aspekte auf die in jedem seriösen Dojo besonderen Wert gelegt wird.