Eines der bekanntesten und meistzitierten Prinzipien des Karate ist „Karate Ni Sente Nashi (空手に先手なし)“. Es ist das zweite der 20 Prinzipien des Karate von Gichin Funakoshi und wurde sogar auf seinem Grabstein verewigt.
„Karate Ni Sente Nashi“ bedeutet übersetzt so viel wie „Im Karate gibt es keinen ersten Schritt“ und wird häufig als „Im Karate gibt es keinen ersten Schlag“ interpretiert.
Leider wird dieses Prinzip oft missverstanden und so gelehrt, dass ein Karateka niemals den ersten Schlag ausführt, sondern erst reagiert, nachdem er angegriffen wurde. Als vermeintlicher Beweis wird häufig darauf hingewiesen, dass die Kata immer mit einem Block beginnt*. Dieses Missverständnis kann jedoch in einer Selbstverteidigungssituation gravierende Konsequenzen haben.
Wer bereits gegen einen aggressiven Angreifer in der Realität kämpfen musste, weiß, wie schwierig es sein kann, Angriffe abzuwehren und selbst in die Offensive zu gehen. In einer Notfallsituation – wenn jemand versucht, ernsthaften Schaden zuzufügen – sollte man nicht in einen Schlagabtausch verwickelt werden. Stattdessen ist es entscheidend, möglichst schnell und unbeschadet aus der Situation zu entkommen, sei es durch Flucht oder durch ein rasches Ausschalten des Angreifers. Ein präventiver Angriff, ganz im Sinne von „Angriff ist die beste Verteidigung“, ist dabei oft die sicherere Taktik, als auf einen Angriff zu warten.
Ursprünglich war Karate primär ein Selbstverteidigungssystem, und die alten Meister wussten, dass in einer Nahdistanzsituation derjenige, der zuerst handelt, meist im Vorteil ist. Eine Reaktion, also eine Abwehr, ist oft zu langsam, besonders da ein entschlossener Angreifer selten nur mit einem einzelnen Angriff agiert. Funakoshi selbst war sich des Vorteils des Überraschungsmoments bewusst. In seinem 1935 erschienenen Buch Karate Dō Kyōhan[1] schreibt er im Kapitel über Frauenselbstverteidigung:
Wenn Sie nicht weglaufen können, auch wenn Sie es versuchen, oder gefangen werden und keine Zeit zum Weglaufen haben, müssen Sie zum ersten Mal eine Selbstverteidigungstechnik anwenden. Aber auch in einer solchen Situation zeigen Sie nicht Ihre Absicht anzugreifen, sondern lassen den Gegner denken, dass Sie unvorbereitet sind, damit er nicht auf der Hut ist. Nehmen Sie dann all Ihre Kraft zusammen, um einen lebenswichtigen Punkt zu treffen, und laufen Sie weg, wenn der Feind zurückweicht.**
Wie ist Funakoshis Maxime also zu verstehen?
Zunächst ist festzuhalten, dass es sich bei diesem Prinzip nicht um eine Verhaltensregel handelt, sondern um eine Einstellung. Die Erklärung des zweiten Prinzips in The Twenty Guiding Principles of Karate[2], verfasst von Genwa Nakasone und von Funakoshi überprüft, beginnt mit einem Zitat:
„Ein Schwert darf niemals leichtfertig gezogen werden“ war der wichtigste Grundsatz im täglichen Leben eines Samurai. Für den ehrenhaften Mann der damaligen Zeit war es unerlässlich, die Dinge bis an die Grenze seiner Möglichkeiten zu ertragen, bevor er handelte. Erst wenn die Situation nicht mehr zu ertragen war, wurde die Klinge aus der Scheide gezogen. Dies war eine grundlegende Lehre des japanischen Bushido (Weg des Kriegers).**
Weiter heißt es:
Im Karate können die Hände und Füße so tödlich sein wie die Klinge eines Schwertes. Daher ist der Grundsatz „Im Karate gibt es keinen ersten Schlag“ eine Erweiterung des grundlegenden Samurai-Prinzips, dass man den rücksichtslosen Einsatz von Waffen vermeiden muss.**
Das bedeutet, ein Karateka sollte nie Karate lernen, um jemanden anzugreifen, oder es nutzen, um grundlos Schaden zuzufügen. Andererseits betont Funakoshi, dass man in einer unausweichlichen Konfrontation alle Fähigkeiten des Karate einsetzen muss, um sich zu schützen:
Wenn jedoch Umstände, die sich der Kontrolle entziehen, die Praktizierenden zum Handeln zwingen, müssen sie mit ganzem Herzen und ohne Rücksicht auf Leib und Leben reagieren und ihre kämpferischen Fähigkeiten nach besten Kräften zur Geltung kommen lassen.**
Das Prinzip sagt also nicht aus, niemals zuerst zuzuschlagen, sondern niemals einen Angriff zu initiieren. Ein Angriff beginnt nämlich bereits vor der eigentlichen Tätlichkeit – durch verbale oder nonverbale Bedrohungen. Wenn jemand einem durch Worte oder Verhalten signalisiert, dass er einem Schaden zufügen will, hat der Angriff bereits begonnen. In diesem Fall ist es oft ratsam, mit einem Präventivschlag die eigene Sicherheit zu gewährleisten und die Konfrontation schnell zu beenden.
Die Maxime fordert, keine Konfrontationen durch Auftreten oder Äußerungen zu provozieren. Kommt es dennoch zu einer Auseinandersetzung, soll man versuchen, sie ohne Gewaltanwendung zu lösen – durch Deeskalation, Flucht oder das Nachgeben (etwa bei einem Raubüberfall). Erkennt man jedoch, dass man die Situation nicht ohne Schaden überstehen kann, sollte man alle Mittel nutzen, um sich und Unbeteiligte zu schützen.
Funakoshi bzw. Nakasone schließt die Erklärung des Prinzips mit folgenden Worten:
Erst wenn eine Situation so unerträglich ist, dass man sie nicht mehr ertragen (oder ohne Konfrontation beenden) kann, sollte man das Schwert aus der Scheide ziehen oder den Speer auf den Gegner stoßen.**
Zusammengefasst bedeutet „Karate Ni Sente Nashi“ also, dass ein Karateka niemals einen Angriff initiieren soll. Ein Präventivschlag ist jedoch eine effektive Methode, um unbeschadet aus einer bedrohlichen Situation herauszukommen. Sobald ein Angreifer seine Absicht zu attackieren deutlich macht, ist der Angriff bereits im Gange, und alle Maßnahmen sind gerechtfertigt, die den Angriff beenden und die eigene Unversehrtheit sowie die Sicherheit Unbeteiligter gewährleisten
* Das Argument, dass die Kata immer (oder meist) mit einem Block beginnt, ist nicht überzeugend. Uke-Techniken in einer Kata haben in der Regel mehrere Bedeutungen und sind selten nur als reine Abwehrtechniken zu verstehen. Vielmehr können sie ebenso gut einen direkten Angriff, eine Kontrolle zur Vorbereitung eines nachfolgenden Angriffs oder eine Befreiungstechnik darstellen.
** Alle Zitate wurden von mir aus dem Englischen mit DeepL.com übersetzt.
Referenzen
[1] „Karate-dō Kyōhan: Master Text for the Way of the Empty-Hand“ by Gichin Funakoshi, translated by Harumi Suzuki-Johnston, Neptune Publications, 2005, ISBN: 978-1-53496-270-5, originally published in 1935 (https://archive.org/details/karate-do-kyohan)
[2] „The Twenty Guiding Principles of Karate: The Spiritual Legacy of the Master“ by Gichin Funakoshi & Genwa Nakasone, translated by John Teramoto, Kondansha USA, 2012, , ISBN: 978-1-56836-496-4, originally published as Karate-do nijukkajo to somo kaishaku in Karate-do taikan in 1938