Zenkutsu Dachi

Einer der wichtigsten Stellungen im modernen japanischen Karate ist der Zenkutsu Dachi (gebeugtes Vorderbein oder nach vorne geneigter Stand). Es ist eine der ersten Stellungen die man als Anfänger lernt und ist oft die Hauptstellung beim Kihon im Dojo. Im Kyokushin und vielen anderen Karatestilen wird viel Wert auf einen langen tiefen und stabilen Zenkutsu Dachi gelegt. Die Länge, Breite, Tiefe und wie man sich im Zenkutsu Dachi bewegt unterscheidet sich aber teils erheblich in den verschiedenen Stilen.  Ich gehe in diesem Bericht nicht darauf ein, wie man den Zenkutsu Dachi korrekt macht, sondern möchte der Frage nachgehen…

Warum ist der Zenkutsu Dachi so lange und tief?

Dieser Stand scheint Aussenseitern und Anfängern wenig nützlich und oft kann man die Kritik hören, dass Karate Stellungen und im Besonderen der Zenkutsu Dachi nicht praktikabel sind im Kampf. Das ist sowohl richtig als auch falsch. Bevor ich aber auf die Funktion und die Anwendung des Zenkutsu Dachi eingehe, möchte ich etwas in der Zeit zurückgehen und die Entwicklung dieser Stellung darlegen.

Wenn man Fotos und Zeichnungen in alten Karate Büchern und Dokumenten betrachtet, stellt man fest, dass der Zenkutsu Dachi um einiges kürzer und aufrechter dargestellt ist. Funakoshi z.B. beschreibt die Länge  des Zenkutsu Dachi im 1935 erschienenen «Karate Dō Kyōhan» folgendermassen: «Die Distanz zwischen den zwei Füssen ist normalerweise zwei shaku und fünf sun.»[1] Obwohl er zwar ebenfalls erwähnt, dass man die Länge der Körpergrösse anpassen soll, sind die knapp 76cm[2] Länge verglichen mit einem Zenkutsu Dachi wie er heute gelernt wird[3] doch eher ein kurzer Stand. Zum Vergleich ein Foto von Funakoshis Zenkutsu Dachi aus dem oben erwähnten Buch von 1935 (Bild 1) und eines aus Oyamas Buch «What is Karate» von 1966 (Bild 2)[4].

Bild 1: Zenkutsu Dachi aus „Karate Dō Kyōhan“, 1935
Bild 2. Zenkutsu Dachi aus „What is Karate?“, 1966

Im traditionellen Karate wie es auf Okinawa gelernt wurde, bevor es am Anfang des 20. Jahrhunderts auf den Hauptinseln Japans Verbreitung fand, waren (und sind) die Stellungen im Allgemeinen weniger tief. Es gibt mehrere Gründe, warum die Stellungen und insbesondere der Zenkutsu Dachi über die Geschichte hinweg tiefer wurde. Ein Grund ist der Einfluss der japanischen Kampfkünste auf das Okinawa Te.

Der Einfluss des Jigen-ryū

Die traditionelle Kampfkunst in Okinawa ist stark von den chinesischen Kampfkünsten beeinflusst (siehe Karatedō Geschichte). Sie dient ursprünglich in erster Linie zur Selbstverteidigung gegen unbewaffnete oder nur leicht bewaffnete Gegner (z.B. Piraten, Diebe und Wegelagerer). Bei solchen Zweikämpfen in kurzer Distanz sind kurze Stellungen und schnelle Bewegungen von Vorteil. Es wurden zwar ebenfalls tiefe Stellungen geübt, um z.B. den Gegner aus dem Gleichgewicht zu bringen, oder zu werfen (siehe unten), kurze aufrechtere Stellungen prägten aber sicher den Kampfstil.
Ein wichtiger Wandel des Kampfstiles erfolgte wahrscheinlich durch den Meister Matsumura Sôkon (1800-1896). Matsumura lernte Te von Sakugawa Shungo (1733-1815), einem unvergleichlichen Meister aus Shuri, der als grosser Könner auf dem Gebiet der Kampfkünste bekannt war und sich vor allem den nördlichen Stil des chinesischen Kenpo angeeignet hatte und an den Adel von Shuri weitergab[5]. Matsumura wurde im Alter von 20 Jahren nach Satsuma auf der japanischen Insel Kyūshū geschickt. Dort erlernte er die Jigen-Schwerttechnik der dortigen Samurai. Im Jigen-ryu gibt es nur eine einzige Schwertstellung und die Philosophie besteht darin, immer das kommende Geschehen zu beherrschen und die innere Einstellung anzustreben, stets mit dem ersten Schlag zu siegen[5]. Der erste Schlag entscheidet über Leben und Tod. Die Tatsache, dass Matsumura die Jigen-Schwerttechnik perfekt beherrschte, als auch die Vorstellung einen Samurai aus Satsuma, welche Okinawa seit 1609 besetzt hielten, als Gegner genüberzustehen, hatte einen entscheidenden Einfluss auf die Gestaltung der Kampfkunst von Matsumura. Matsumura Soken gestaltet sein Karate nach dem Grundsatz, den Gegner mit dem ersten Schlag oder Tritt zu töten. Man steht dem Gegner deshalb aus grösser Distanz gegenüber, um dann mit höchster Geschwindigkeit und grösster Kraftentwicklung nach vorne zu schnellen (z.B. in einen langen Zenkutsu Dachi) und den Gegner vernichtend zu treffen. Ähnlich einem Samurai aus Satsuma, der mit erhobenem Schwert wartet, um dann blitzschnell nach vorne zu schreiten und seinen Gegner mit dem Schwert entzwei zuteilen. Matsumura lehrte seine Synthese aus den Prinzipien des Jigen- ryū und der chinesischen und okinawischen Kampftradition in der Gegend um die Burg von Shuri. Später wurde dieser Stil unter dem Namen Shuri-te bekannt[6]. Obwohl ich keine Bildquellen gesehen habe, die diese Theorie unterstützen hört sie sich plausibel an und sowohl Kenei Mabuni[5] als auch Patrick McCarthy[6] weisen auf den Einfluss der Jigen-Schwerttechnik auf den Stil des Shuri-te von Matsumura hin.

Japanisierung

Die eigentliche Transformation zu längeren, tieferen Stellungen fand aber mit der Einführung und Verbreitung des «modernen» Karate unter Gichin Funakoshi, selber ein Meister des Shuri-te und verstärkt durch seinem Sohn Gigō Funakoshi statt.
Wie bereits unter Karatedō Geschichte erwähnt, wurde im Zuge des japanischen Nationalismus der Vorkriegszeit das Karate von Okinawa auf den Hauptinseln Japans vorgestellt und stark «japanisiert» um es populär zu machen. Diese Japanisierung führte einerseits dazu, dass das vorwiegend mündlich und durch das Erlernen von Kata vom Meister an seine Schüler weitergegebene okinawische Selbstverteidigungssystem systematisiert wurde und den japanischen Kampfkünsten wie Judo und Kendo angeglichen wurde. Karatedō wurde wie Judō und Kendō als Unterrichtsfach an Schulen und Universitäten eingeführt mit dem Ziel den Charakter und den Körper zu formen und zu stärken. Für die Charakterbildung flossen die Wert und philosophischen Aspekte des Buddhismus und des Budō der Samurai in das Karate ein. Um den Körper zu stärken wurden unter anderem die Stellungen tiefer und länger. Die physischen und mentalen Techniken aus den Kata wurden geordnet und ebenfalls als Einzelformen gelehrt. Ebenfalls wurde der sportliche Aspekt hervorgehoben und Wettkämpfe eingeführt um Karate populärer und der Masse zugänglicher zu machen.
Besonderen Einfluss auf diese Tendenz hatte Gigō Funakoshi der Sohn und Nachfolger von Gichin. Gigō entwickelte massgeblich die Schlagtechniken weiter, die in tiefen Stellungen wie im Kendō ausgeführt und aus eher grösserer Distanz angewendet werden[7]. Wahrscheinlich auch da sich diese Techniken besonders für den kontaktlosen Kumite Wettkampfsport eigneten.

Nach diesem Geschichts-Ausflug zurück zu Sinn und Zweck des tiefen und langen Zenkutsu.

Der tiefe und lange Zenkutsu und auch die anderen eher tiefen Stellungen dienen in erster Line zur Stärkung der Muskeln und Gelenke und zum Erlernen der Konzepte einer guten Kampfstellung.
Es ist tatsächlich schwierig sich im Zenkutsu dachi schnell zu bewegen. Das ist einer der Gründe warum die «normale» Kampfstellung z.B. im Kyokushin und die Stellungen im «alten» Okinawa Karate Selbstverteidigungssystem um einiges kürzer und weniger tief sind. Sich im Zenkutsu fortzubewegen macht in einem realen Kampf wenig Sinn. Bei einem Zweikampf, der auf Distanz startet, wie z.B. einem Kumite Wettkampf, kann aber ein «Ausfallschritt» in den Zenkutsu Dachi durchaus Sinn machen, um schnell Distanz zu überwinden und maximale Kraft aufzubauen (Siehe die Renraku im 9. und 8. Kyu des IFK Syllabus). Der Zenkutsu Dachi ist in der Längsachse sehr stabil, d.h. man kann in dieser Stellung sehr gut Kraft nach vorne ausüben oder einer Kraft von vorne widerstehen. Die Stellung, die man beim Schieben eines schweren Gegenstandes einnimmt, ähnelt nicht aus Zufall einem Zenkutsu Dachi. Der Zenkutsu Dachi kann deshalb auch benutzt werden, um den Gegner aus dem Gleichgewicht zu bringen, das haben übrigens auch schon die alten Meister aus China und Okinawa gewusst, wie die Zeichnungen aus dem Bubishi belegen (Bild 3). Ebenso kann der Zenkutsu bei Würfen hilfreich sein.

Bild 3: Ein Zeichnung aus dem Bubishi Auszug in Seipai Study von Kenwa Mabuni [8]

Ich hoffe das konnte etwas Klarheit darüber geben, warum wir im Kihon einen langen und tiefen Zenkutsu Dachi üben.

Michel

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Quellen:

[1] Gichin Funakoshi (Translated by Harumi Suzuki-Johnston): „Karate Dō Kyōhan“ (2005), ISBN-13: 978-1534962705

[2] Ein Shaku entspricht 30.3cm und ein sun 3.03cm.

[3] Die Länge des Zenkutsu Dachi z.B. im Kyokushin wird als zwei Schulterbreiten angegeben. Die Schulterbreite eines durchschnittlichen Mannes liegt zwischen 44 – 52.5cm.

[4] Masutatsu Oyama: „What is Karate ?“ (1966), ISBN: 0-87040-147-5

[5] Kenei Mabuni: „Leere Hand. Vom Wesen des Budō Karate“ (2014), ISBN: 978-3-938305-05-8

[6] Patrick McCarthy: „The Bible of Karate Bubishi“ (1995), ISBN: 0-8048-2015-5

[7] wikipedia.en Artikel

[8] Kenwa Mabuni (1934)

[9] karatebyjesse.com